A A A

Institut Korund

30.04.2024

Hauptmenue

Hauptseite
Vorstellung
Unsere Schwerpunkte
Kontakt
Impressum
Gesundheitsnachrichten

Unsere Rubriken "Fragen-Antworten"

Kinder im Vorschulalter
Kinder und Jugendliche im Schulalter
Erwachsene
Unfruchtbarkeit bei Frauen
Elektroenzephalografie
Elternschule
Veranstaltungen
Unsere Studien
Sexuelle Störungen bei Frauen
Sexuelle Störungen bei Männern
Unsere Studien

 

Zur Frage der psychischen Veränderungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Folge der Migration nach Deutschland (die letzte Migrationswelle betreffend)

Die Lehre, die sich mit den psychischen Veränderungen in Folge von Migration befasst, besitzt eine längere Geschichte. Die Migrantenpsychiatrie existiert als Wissenschaft seit mehr als 100 Jahren, aber viele Fragen dieses Bereiches der Psychiatrie sind noch unzureichend untersucht. Unter anderem bedingen dies die Kompliziertheit der Migrantenpsychiatrie (durch die Kopplung der Problematik der allgemeinen Psychiatrie mit der Problematik des Migrantensyndroms), die Dynamik der sozialen und politischen Veränderungen im Aufnahmeland, und die Unterschiede in der Kultur und insbesondere der Mentalität zwischen den Migranten und den Einheimischen.

 

Arbeiten und Forschen sollten in diesem Bereich vor allem Fachleute, die die Sprache der Migranten beherrschen, deren Kultur und Mentalität gut kennen und darüber hinaus mit Bedingungen und Besonderheiten des Aufnahmelandes vertraut sind.

 

Einer der wichtigsten Bereiche in der Migrantenpsychiatrie ist der der psychischen Veränderungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Migrantensituation.

 

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Migration intensiviert, wobei die Migrationsbedingungen einer ständigen Veränderung unterworfen sind. In Verbindung hiermit sind die Probleme der Migrantenpsychiatrie komplizierter und bedeutender geworden, insbesondere betrifft dies den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

 

Jede Migration hat ihre eigenen Besonderheiten. Diese hängen davon ab, woher die Migranten kommen, wo und wie sie im Aufnahmeland untergebracht sind, sowie vom Alter bei der Migration. Einfluß haben darüber hinaus der Kulturunterschied, die bestehenden psychologischen Besonderheiten und die Mentalität der Bevölkerung im Aufnahmeland, die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen und eine Reihe weiterer umweltbedingter, mikro- und makrosozialer Faktoren. Die Auswirkung dieser Faktoren auf die Entwicklung psychischer Störungen unterliegt einer ständigen Veränderung.

 

In dieser Arbeit werden wir einige Besonderheiten der psychischen Veränderungen erläutern, die bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus ehemaligen GUS-Staaten in Folge der Migration nach Deutschland aufgetreten sind.

 

An dieser Arbeit waren folgende Autoren beteiligt:

 

Boris Miretski, verfügt über eine 30jährige psychiatrische Berufserfahrung in Moskau, hiervon arbeitete er 20 Jahre als konsultierter Psychiater für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für Erwachsene. Er lebt seit 8 Jahren in Deutschland, arbeitete einige Jahre in einer psychiatrischen Klinikambulanz für Kinder und Jugendliche, sowie in einem Drogenhilfezentrum. Die vorliegende Arbeit resultiert aus den Ergebnissen aus psychiatrischen Untersuchungen und Untersuchungen im sozialen Umfeld von 572 Migranten, darunter 153 Kinder und Jugendliche, die sich wegen ihrer psychischen Probleme an die Institutsambulanzen gewendet haben. Zusätzlich wurden über 1000 Migranten interviewt.

 

Lothar Schmidt, arbeitet als Psychologe seit 10 Jahren in der niedrigschwellige Drogenhilfe in Saarbrücken, die er konzeptionell mitentwickelt und gestaltet hat.

 

Carina Hornung, arbeitete als Psychologin in verschiedenen Arbeitsfeldern der Drogenhilfe und zur Zeit im Kontext der Aids-Hilfe Saar e.V..

 

Diese Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit bezüglich der Untersuchung des Migrationssyndroms bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Wir versuchen hierbei, die von uns gemachten Erfahrungen zusammenzufassen, und möchten einige der nach unserer Einschätzung interessantesten migrationbedingten Erscheinungen psychischer Veränderung bei russisch sprachigen Migranten beleuchten, die in den letzten 10 Jahren nach Deutschland emigriert sind. Außerdem widmen wir uns einigen Fragen in Epidemiologie, Ätiologie, Pathogenese, Therapie und Prävention des Migrationssyndroms. Darüber hinaus betrachten wir einige Probleme sozialer und psychologischer Integration der Migranten in die deutsche Gesellschaft. Unser Anliegen ist es, interessierte Institutionen in Deutschland auf eine Reihe wichtiger psychosozialer Probleme, die mit Migration verbunden sind, aufmerksam zu machen.

 

 

 

1. Epidemiologie

 

Im Saarland leben zur Zeit über eine Million Menschen, die Zahl der russisch sprachigen Aussiedler wird auf mindestens 37000 geschätzt. Die Mehrzahl dieser Menschen stammt aus ländlichen Gebieten der asiatischen Republiken der ehemaligen UdSSR. Sie migrierten in der Regel in einem großen Familienverbund, bestehend aus 2-3 Generationen. Nach dem Aufenthalt im Aufnahmelager verteilten sich die Migranten relativ gleichmäßig über das gesamte Saarland mit der Tendenz, in räumlicher Nähe zu anderen Migranten zu wohnen, wodurch Gebiete russisch sprachiger Migranten in größerer Dichte entstanden. Die Mehrzahl übte vor der Migration einen handwerklichen Beruf aus.

 

Die Zahl jüdischer Migranten im Saarland wird auf über 2000 geschätzt, die überwiegend aus städtischen Gebieten der ehemaligen UdSSR stammen. Sie migrierten im Vergleich zu der oben beschriebenen Gruppe in einem kleineren, aber oft ebenfalls 2-3 Generationen umfassenden Familienverbund. Über 60% der Erwachsenen absolvierten eine akademische Ausbildung.

 

Aufgrund bestimmter Unterschiede in Mentalität und Kultur bestehen weniger Kontakte zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen als innerhalb jeder Bevölkerungsgruppe.

 

Die staatliche Unterstützung der Migranten, die direkt nach ihrer Einreise in Aufnahmelagern oder Übergangswohnungen untergebracht wurden, in denen sie die ersten Monate (in seltenen Fällen bis zu einem Jahr) lebten, verlief nach unserer Einschätzung positiv. Beginnend mit dieser ersten Adaptionsphase wurde ihnen Sozialhilfe bewilligt, und es standen ihnen Sozialarbeiter als Ansprechpartner zur Verfügung. Um den Integrationsprozess zu fördern, bestand die Möglichkeit zu kostenlosen Sprachkursen und zu beruflicher Aus- und Weiterbildung.

 

Kinder wurden altersentsprechend im Kindergarten betreut oder besuchten die Schule in einer altersgemäßen oder niedrigeren Klassenstufe.

Die Aus- und Weiterbildung der Eltern wurde durch zusätzliche finanzielle Hilfen für die Kinderbetreuung unterstützt, die gewährte Sozialhilfe umfaßte die Finanzierung von Lebenshaltungskosten und Wohnraum.

 

Die psychologische Betreuung der Migranten wird jedoch als unzureichend angesehen. Den betreuenden Sozialarbeitern und Lehrern in den Sprachkursen fehlte neben der Mentalitätsunterschiede und der Sprachbarriere die entsprechende psychologische Kompetenz. Bei den Institutionen und Gremien, die sich mit der psychologischen Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen befassen, wie z.B. dem schulpsychologischen Dienst oder dem Landeskinder- und Jugendhilfeausschuss, gab es keine psychologischen Konzepte zur Unterstützung dieser Migrantengruppe. Die unzureichende Zahl muttersprachlicher Mitarbeiter, die daraus resultierenden Sprachprobleme und der bestehende Mentalitätsunterschied zwischen Migranten und Betreuern erschwerten eine befriedigende psychologische Hilfe. Es existierten zu wenig entsprechende Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung des Auftretens des Migrationssyndroms.

Ein zusätzliches Problem lag im Unverständnis auf seiten der Migranten für den Ablauf und die Besonderheiten deutscher ärztlicher Sprechstunden.

 

Nach unseren Beobachtungen waren psychische, somatische und psychosomatische Dekompensationen am ausgeprägtesten in den ersten 2-3 Jahren nach der Einreise nach Deutschland. Diese Periode war geprägt von fehlenden Sprachkenntnissen, dem Identitätsverlust und unzureichender sozialer Adaption und Integration. Gerade in dieser Phase benötigten die Migranten am ehesten psychologische Unterstützung.

 

Die Mehrzahl der Migranten mit der genannten Dekompensation versuchten aus eigener Kraft, ihre seelischen Probleme zu überwinden, ohne sich an einen Psychiater, Psychologen oder eine Beratungsstelle zu wenden. Im Vergleich zu gebürtigen Deutschen suchten Migranten deutlich weniger Beratungsstellen oder andere medizinische Institutionen, die psychologische oder psycho-soziale Hilfe bieten, auf. Nicht selten suchten Migranten statt dessen so genannte Wahrsager und russische Pseudoheiler auf.

 

Die privaten Kontakte der Migranten, die sich in den Aufnahmelagern und während der Sprachkurse entwickelten, erwiesen sich als die stabilsten ihrer Kontakte und konnten viele Jahre andauern. Neue freundschaftliche Kontakte zu entwickeln war aufgrund des Mentalitätsunterschiedes und der Migrantensituation komplizierter, und so lebten die Migrantenfamilien in Deutschland wesentlich isolierter als in ihrer alten Heimat.

Der Status der Familie und die interfamiliären Beziehungen änderten sich mit der Migration deutlich, nicht nur durch die mit der Migration verbundenen Überbelastungen, sondern auch durch die veränderte Rolle der Frauen, Männer und Kinder in der neuen Gesellschaft und der Familie. Die Adaptions- und Integrationsprozesse bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen verliefen anders als bei den erwachsenen Migranten.

In den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern entwickelten sich aufgrund der Migrantensituation spezifische Probleme. Bei den Eltern blieb die alte Mentalität überwiegend bestehen, während die Kinder eine neue Mentalität entwickelten, die zwischen der Mentalität der Eltern und der der Deutschen lag.

Die Kinder erlernten schneller die deutsche Sprache, integrierten sich leichter, und adaptierten sich schneller an die gleichaltrigen Deutschen.

 

Stärker jedoch als von uns erwartet, war die aufgrund des Alters noch entsprechend unreife Psyche von Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen von der Migration nach Deutschland betroffen.

Bei Frauen erwies sich die Adaptions- und Integrationsfähigkeit im Durchschnitt als höher als bei den Männern, obwohl in unseren Sprechstunden die Frauen deutlich in der Überzahl waren.

2. Ätiologie

Unserer Meinung nach liegt die Hauptursache des Migrationssyndroms in einem lang andauernden oder ständigen Stress, bedingt durch

 

1. Einen großen Mentalitätsunterschied zwischen der deutschen Bevölkerung und den russisch sprachigen Migranten, die aus dem sowjetischen Sozialismus oder Postsozialismus in den entwickelten deutschen Kapitalismus gekommen sind

2. Den Unterschied zwischen deutscher Kultur und der Kultur der Migranten

3. Den Unterschied zwischen der Staatsform und der Gesellschaftsordnung in Deutschland und den Ländern der ehemaligen UdSSR

4. Unkenntnis der und Unverständnis für die Gesetze und Prinzipien, nach denen die deutsche Gesellschaft lebt

5. Sprachprobleme

6. Differenz zwischen der Realität des Migrationsalltags und den vorhandenen Erwartungen an das Leben in Deutschland

7. Psychische und körperliche Instabilität oder Erkrankungen vor dem Zeitpunkt der Migration

8. Summierung des Stresses durch die Situation der Herkunftsländer, die zur Migration geführt hat, durch die Belastung aufgrund der Migrationsvorbereitungen und durch den aus der aktuellen Migrationssituation entstehenden Stress.

9. Wir konstatierten eine deutliche Korrelation zwischen der Ausprägung der oben genannten Stressoren und den psychischen Veränderungen, denen Migranten unterworfen sind.

 

Die qualitativen und quantitativen Stressparameter sind sehr variabel und befinden sich in einer ständigen Dynamik. Aus dem Stress, dem die Migranten ausgesetzt sind, resultieren Störungen psychischer, psychosomatischer und somatischer Natur, die wiederum die Struktur, Qualität und Quantität des Migrantenstresses entscheidend beeinflussen. Dieser Rückkopplungseffekt verstärkt unter Umständen den Stress bis zu einem unkontrollierbaren Grad, wobei die einzelnen Stressfaktoren äußerst variabel und in ihrer Konsequenz schwer vorhersagbar sind.

Der psychische Zustand, die subjektive Wahrnehmung des Migranten und die psychische Fähigkeit, seine Migrantensituation zu bearbeiten, haben eine große Bedeutung. Zufällige und scheinbar unbedeutende Ereignisse können sich unerwartet qualitativ und quantitativ auf den Migrantenstress auswirken.

3. Pathogenetische und klinische Besonderheiten des Migrationssyndroms

 

Wie im oberen Abschnitt beschrieben, bestimmen der ständig wirkende Migrantenstress und die genannten Faktoren die Pathogenese und die Klinik psychischer Störungen bei Migranten. Die Bedeutung einzelner Faktoren oder einer Summe von Faktoren für den pathogenetischen Prozess sollte aufgrund der bestehenden Komplexität und Variabilität individuell beurteilt werden. Dies gilt insbesondere bei Migranten im Kinder- und Jugendalter und für junge Erwachsene. Die psychischen und psychosomatischen Reaktionen auf den starken, langfristigen oder ständigen Stress unterscheiden sich in ihrer Struktur, Variation, Intensität und klinischer Erscheinungsform, in Abhängigkeit von psychischen und somatischen Besonderheiten des Patienten und unterschiedlichen sozialen Faktoren

 

Nachfolgend wollen wir einige klinische und pathogenetische Aspekte des Migrationssyndroms betrachten, unter Berücksichtigung weiterer syndrombestimmender Faktoren:

 

1. Alter

2. Besonderheiten der Persönlichkeit

3. Zusätzliche Erkrankungen

4. Psychosoziale Faktoren

5. Soziale Situation

etc.

 

Wie bereits bekannt, reagiert der Organismus altersabhängig unterschiedlich auf chronischen Stress. Im Kindesalter, wenn der Stress auf den noch unreifen kindlichen Organismus trifft, ruft er eine für diese Altersepoche spezifische und altersentsprechende Veränderung hervor

 

Die größte Bedeutung haben:

 

1. Alter des Kindes bei Belastungsbeginn

2. Charakter des Stresses

3. Intensität des Stresses

4. Dauer des Stresses

Es ist bekannt, dass chronischer Stress negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes hat. Je jünger das Kind ist, um so weniger kann es diesem Stress entgegensetzten und um so gravierender und undifferenzierter sind die hieraus resultierenden pathologischen Folgen.

 

Bereits vorhandene Störungen des zentralen Nervensystems (lokaler und/oder diffuser Art), unterschiedliche genetische Dispositionen sowie begleitende körperliche Erkrankungen haben großen Einfluss auf die Formierung des pathogenetischen Prozesses und klinischer Erscheinungen.

Diese Erscheinungen können latent bis stark ausgeprägt sein, in Abhängigkeit von der Intensität, des Charakters und von der Dauer des Stresses. In Folge der funktionellen Störungen können sich langfristig organische Störungen manifestieren.

 

 

3.1. In Deutschland geborene Kinder und Kinder, die vor dem fünften Lebensjahr nach Deutschland migrierten

 

Um statistisch relevante Zusammenhänge nachzuweisen, reicht die Zahl der Untersuchungen derzeit noch nicht aus, jedoch scheint nach unseren bisherigen Beobachtungen die Möglichkeit zu bestehen, daß der Migrationsstress bereits pränatal auf das Kind Auswirkungen hat. Die betroffenen Kinder sind in ihrem Erscheinungsbild unruhiger als gleichaltrige Kinder, die wir in der ehemaligen UdSSR beobachtet haben. Migrantenkindern im Vorschulalter wurden bereits durch die Spannung, die in ihren Familien herrschte, negativ beeinflusst. Dieser Einfluss wuchs mit zunehmendem Alter der Kinder. Bei diesen Kindern konnte man verstärkt affektive Labilität beobachten, sie waren unruhiger, empfindlicher und neigten eher zur Dekompensationen. Verstärkt litten sie unter psychischen und psychosomatischen Störungen sowie körperlichen Erkrankungen. Vorhandene Risikofaktoren mündeten schneller in subklinische oder klinische Erscheinungsformen.

 

 

3.2. Kinder, die erst ab dem 5. Lebensjahr in Deutschland lebten

 

Diese Kinder entwickelten nach ihrer Einreise häufig eine depressive Reaktion. Dies wurde dadurch bedingt, dass diese Kinder aus ihrer gewohnten Situation herausgerissen waren, ihre Freunde, Verwandte und ihren gewohnten Lebensraum für immer verloren hatten.

Ihre Lebensbedingungen und Stereotypen hatten sich in Deutschland häufig vollständig geändert.

Wurden die Kinder mit ihren Familien, wie es häufig der Fall war, direkt nach ihrer Ankunft in Wohnheimen einquartiert, verlor sich diese depressive Reaktion relativ schnell, aufgrund der Einbettung in den sozialen Kontext mit Gleichaltrigen. Nach kurzer Zeit entwickelten die Kinder für gewöhnlich eine gehobene Stimmung mit euphorischer Komponente und leichter psychomotorischer Erregung, die die Kinder auch untereinander übertrugen. Die Kinder lebten diesen Zustand aus, indem sie in Gruppen durch die Unterkünfte liefen und sehr laut waren. Sie wurden dadurch in ihrem Verhalten schwerer steuerbar. Nach Verlassen der Wohnheime reagierten die Kinder in der Regel mit einem leichten Stimmungstief und einer Erregung, die sich erst nach einigen Wochen oder Monaten legten. Die Kinder tendierten üblicherweise dazu, die in den Wohnheimen geschlossenen Freundschaften beizubehalten.

Kinder, die seit ihrer Ankunft in Wohnungen untergebracht waren, und von Gleichaltrigen deutlich isolierter lebten, zeigten in der ersten Zeit tiefere und länger andauernde psychische Reaktionen. Die nachfolgende Phase der Erregtheit fehlte oder war nur geringfügig ausgeprägt.

 

Psychisch gesunde Kinder, die in einer ungünstigen Migrationssituation lebten, konnten psychische Veränderungen bis hin zu einem ausgeprägten pathologischen Grad entwickeln. Dieser Zustand konnte einige Zeit andauern, bis sich die Migrationssituation positiv verändert hatte oder das Kind entsprechend gute Kompensationsmechanismen entwickelt hatte.

Patient G., 5 Jahre:

Der Patient wurde von seinem Vater vorgestellt mit der Klage, daß das Kind Schlafstörungen habe, zeitweise sehr unruhig und sehr empfindlich sei, periodisch unter Konzentrationsstörungen litte und in dieser Zeit auch nicht auf Ansprache reagiere. Das Kind habe manchmal mehrere Minuten andauernde Zustände, in denen es besonders unruhig, aufgeregt und chaotisch spiele. Diese Erscheinungen und Zustände seien zunehmend. In der Familie seien keine psychischen Erkrankungen bekannt.

Die Eltern des Kindes seien vor der Geburt mit den Eltern des Vaters illegal nach Deutschland gekommen. In Verbindung mit der illegalen Einreise habe die Familie ernsthafte juristische und soziale Probleme gehabt. Die Situation in den beiden Familien sei sehr angespannt und kompliziert gewesen. Die Schwangerschaft sei nicht geplant gewesen. Einige Zeit nach der Geburt hätten sich die Eltern scheiden lassen und die Mutter habe einen gebürtigen Deutschen geheiratet. In dieser neuen Familie sei ein Halbbruder zur Welt gekommen. Der Vater des Patienten habe eine Landsmännin geheiratet. Zwischen den neu entstandenen Familien herrsche eine schlechte Beziehung, ebenso zu den Eltern des Vaters. Den alten und kranken Großeltern drohe die Abschiebung aus Deutschland. Der Patient lebe abwechselnd in allen drei Familien.

Die oben genannte Situation verursachte beim Patienten eine ausgeprägte Dekompensation und den beschriebenen Zustand, was die Eltern nach fachlicher Hilfe suchen ließ.

Katamnese nach acht Monaten:

Nachdem die Eltern die psychosozialen Empfehlungen des Arztes befolgten (wie z.B. die Empfehlung, das Kind in einer Familie zu lassen und von den interfamiliären Spannungen fernzuhalten), verbesserte sich der Zustand des Patienten deutlich und sein Verhalten normalisierte sich nach kurzer Zeit ohne ausführliche psychotherapeutische oder medikamentöse Behandlung.

Wir beobachteten eine deutliche Korrelation zwischen der Ausprägung des Migrationssyndroms in der Familie und dem psychischen Zustand der Kinder, insbesondere dann, wenn bei den Kindern vor der Migration nervliche oder psychische Störungen oder Risikofaktoren vorhanden waren.

 

Patient K., 4,5 Jahre:

Nach Angaben der Mutter habe sie selbst als Kind an epileptischen Anfällen gelitten und sei heute empfindlich, verletzlich und erregbar. Der Patient sei bereits vor der Migration affektiv labil gewesen, er habe unter Schlafstörungen und Verstopfung gelitten. Die Familie sei vor der Migration in einer sehr unruhigen Situation gewesen. Als der Patient zwei Jahre alt war, sei die Mutter mit ihren Eltern nach Deutschland migriert. Die Situation in der Familie sei in Verbindung mit der schweren Erkrankung und dem Tod des Großvaters noch angespannter geworden. Direkt nach der Einreise habe die Mutter einen Sprachkurs begonnen und danach einen Beruf erlernt, und deswegen sei der Patient von der Großmutter betreut worden, die keine deutschen Sprachkenntnisse hatte. Die Familie habe wenig Kontakte zur deutschen Gesellschaft gehabt.

Die Mutter berichtet, dass sich der Zustand des Kindes nach der Einreise verschlechtert habe, es sei noch empfindlicher und verletzlicher geworden, seine Schlafstörungen seien verstärkt, es schlafe unruhig und auch seine Verstopfung sei ausgeprägter. Die Entwicklung der Intelligenz sei altersgemäß. Mit 4,5 Jahren sei der Patient in den Kindergarten gegangen, wo ihm die Umgebung, die Sprache und die Mentalität fremd gewesen seien. Zu Beginn seien die anderen Kinder neugierig gewesen, danach hätten sie jedoch das Interesse verloren. Der Patient sei in der ihm fremden Umgebung ohne Sprachkenntnisse zunehmend isolierter gewesen, er habe sich von seinen Altersgenossen abseits gehalten und sei beim Spielen passiv gewesen. Zuhause sei er zunehmend reizbarer und empfindlicher geworden und seine Schlafstörungen und die Verstopfung hätten noch weiter zugenommen. Außerhalb des Kindergartens und im Kontakt mit russisch sprachigen Kindern und Erwachsenen sei er im Gegensatz dazu aktiv, aufgeschlossen und entspannt Die Integration des Kindes in eine gleichaltrige deutsche Kindergruppe habe sich verzögert, da er die deutsche Sprache, die Gepflogenheiten und Umgangsformen noch nicht entsprechend gelernt habe. In Verbindung mit den oben beschriebenen Erscheinungen hätten die Pädagogen des Kindergartens vor der Einschulung den Verdacht der psychischen Entwicklungsverzögerung geäußert und eine Einschulung in die Sonderschule empfohlen.

Katamnese nach zwei Jahren:

Die Mutter habe ihre Ausbildung nach drei Jahren beendet, arbeite nun und lebe mit ihrem deutschen Freund zusammen, gemeinsam mit dem Kind. Die familiäre Situation sei deutlich ruhiger geworden. Das Kind besitze gute deutsche Sprachkenntnisse, und zeige gute Leistungen in einer normalen Schule. Nach Angaben der Lehrerin besitze das Kind gute Fähigkeiten, es sei aktiv, habe aber noch leichte Aufmerksamkeitsstörungen.

Wenn bei den Kindern zusätzliche Risikofaktoren oder latente Krankheiten bestanden, entstanden unter den Migrationsbedingungen nicht selten klinische Erscheinungen unterschiedlicher Art.

 

Patient Ba., 4,5 Jahre:

Die Familie sei illegal nach Deutschland eingereist und habe deshalb große juristische und soziale Probleme. Es gebe in der Familie noch zwei ältere Brüder. Die Beziehungen zwischen den Eltern seien sehr schlecht, es gebe häufig Streit. Die Familie wohne in einem Wohnheim, mit fünf Personen in einem kleinen Zimmer. Bei der Mutter habe sich eine schwere psychische Dekompensation entwickelt, aufgrund derer sie in eine psychiatrische Klinik verlegt worden sei.

Bei der Einweisung zu uns berichtete die Mutter, dass sich der Zustand des Kindes zunehmend verschlechtere, dass sich bei ihm Schlafstörungen entwickelten und steigende Erregbarkeit, es sei außerdem empfindlicher geworden, reizbarer und weinerlich. Auf fast jeden Vorschlag antworte es mit „Ich will nicht“ oder „nein“. Es klage auch öfter über Kopfschmerzen. Es bestehe der Verdacht auf eine psychische Entwicklungsverzögerung. Der Zustand des Kindes verschlechtere sich progressiv.

Katamnese nach vier Jahren:

Das Kind wurde unregelmäßig behandelt. Der Vater habe die Familie verlassen. Allmählich habe sich die soziale und familiäre Situation verbessert, die Familie sei in eine abgeschlossene Wohnung einquartiert worden. Die Mutter habe eine feste Arbeit gefunden, ihr psychischer Zustand habe sich deutlich verbessert und stabilisiert. Der Zustand des Patienten verbessere sich allmählich, er sei ruhiger und ausgeglichener geworden, seine psychische Entwicklung sei altersentsprechend, er helfe aktiv im Haushalt, zeige gute schulische Leistungen.

Eine große Bedeutung für die Integration des Kindes hat die Haltung der Eltern zur Integration ins deutsche soziale Milieu.

 

Patient K., 5 Jahre:

Es handele sich um ein spätes Einzelkind. Vor der Migration der Eltern sei das Kind übermäßig vor Gleichaltrigen behütet worden. Deshalb habe das Kind bereits vor der Migration Kontaktschwierigkeiten mit Gleichaltrigen gehabt, zu Erwachsenen habe es gute Kontakte gehabt. Nach der Einreise habe sich der Zustand des Kindes weiter verschlechtert. Als es im Wohnheim auf die vielen anderen, unruhigen Kinder getroffen sei, sei es nicht in der Lage gewesen, sich zu integrieren, vielmehr seien seine negativen und aggressiven Reaktionen auf die Gleichaltrigen noch stärker geworden, es laufe vor ihnen weg, lehne es kategorisch ab, mit den Kindern zu sprechen, schreie sie aus großem Abstand an und werfe wütend Steine in ihre Richtung. Die Behandlung bei uns hatte keinen Erfolg, da die Eltern ihre Erziehungstheorien fortsetzten. Der Versuch, den Patienten in einen Kindergarten zu integrieren sei auch gescheitert.

Katamnese nach drei Jahren:

Mit Hilfe von Überzeugungsversuchen und unter Zwang habe das Kind angefangen, in die Schule zu gehen, wobei es jedoch große Eingewöhnungsschwierigkeiten habe. Nach Angaben der Eltern seien seine Schulleistungen gut, der Kontakt zu Gleichaltrigen verbessere sich allmählich, bleibe aber unbefriedigend. Arztbesuche lehne der Patient kategorisch ab und reagiere sehr negativ auf Maßnahmen zur Beschleunigung seiner sozialen Integration.

 

Die Migrantensituation kann bei vorhandenen Risikofaktoren akute psychische Zustände provozieren, und danach rezidivierende psychische Zustände hervorrufen.

Patient B., 5,5 Jahre:

Schwangerschaft, Geburt und körperliche Entwicklung seien unauffällig gewesen. Nach Angaben der Mutter sei das Kind verletzlich und erregbar. Auch die Eltern und die ältere Schwester (11 Jahre) seien empfindlich, verletzlich, unruhig und hitzig. In der Familie träten öfter Konflikte auf, obwohl man sich selbst als hilfsbereit sehe. Im Vorfeld der Migration seien die Beziehungen zusätzlich angespannt gewesen. Im Flughafen habe sich vor dem Abflug nach Deutschland der Zustand des Kindes rasch verschlechtert, es sei sehr aufgeregt gewesen, habe angefangen, herum zu rennen, sehr laut geschrieen, es sei unmöglich gewesen, es festzuhalten, es habe auf die Bemerkungen der Erwachsenen gar nicht reagiert. Hierbei habe es aber keine Anzeichen einer Bewusstseinsstörung gezeigt. Auch im Flugzeug sei das Kind sehr unruhig gewesen. Erst einige Tage nach der Einreise sei der Patient etwas ruhiger geworden, die ausgeprägte Unruhe habe noch einige Wochen angehalten, er sei schlecht steuerbar, laut und hyperaktiv gewesen und habe sehr schlecht geschlafen. Nach nur wenigen Monaten intensiver Behandlung habe sich der Zustand des Patienten verbessert, blieb jedoch auch nach einigen Jahren noch instabil. Jede ungünstige Situation könne den Patienten dekompensieren, er reagiere dann wieder in einem solchen Grade unruhig, reizbar und weinerlich, dass die Eltern ihn zum Arzt bringen müssten. Als das Kind z.B. gegen seinen Willen mit seiner Klasse in ein Ferienlager habe fahren müssen, habe sich dort sein Zustand deutlich verschlechtert, es habe sich eine ausgeprägte innere Spannung entwickelt, verbunden mit Ängsten, Unruhe, Schlafstörungen und Weinerlichkeit. Wegen seines schlechten Zustandes habe das Kind diese Fahrt abbrechen müssen. Sein Zustand habe sich erst nach einiger aktiver ambulanter Behandlung verbessert.

Bei Vorhandensein weiterer Risikofaktoren und psychischer Dekompensation kann der Migrationsstress zusätzlich zu psychischen Störungen noch andere Formen von Dekompensation hervorrufen (vegetative, somatische, etc.).

 

Patientin D., 5 Jahre:

Noch vor der Migration seien bei der Patientin epileptische Aktivitäten im EEG konstatiert worden. In Verbindung mit der Einreise nach Deutschland habe das Kind außer unter der Verschlechterung seines psychischen Zustandes auch unter Zuckungen beim Einschlafen und Erwachen gelitten, es habe unruhig geschlafen, habe geschlafwandelt und gelegentlich bettgenässt.

Katamnese nach 3,5 Jahren:

Nach langfristiger Behandlung sei der Zustand der Patientin deutlich besser geworden, es träten keine Zuckungen oder sonstige Schlafstörungen mehr auf. Die Patientin habe nur noch leichte Konzentrationsstörungen. Die Schulleistungen seien gut.

 

 

 

3.3. Kinder im Grundschulalter

Die Pathogenese und Klinik im Grundschulalter haben ihre eigenen Besonderheiten. Sie hängen von einer Reihe von Voraussetzungen ab, die zur Verstärkung von psychosomatischen Erscheinungen beitragen können, welche sich nach Verbesserung des psychischen Zustandes verringern oder ganz verschwinden können. Die häufigste Symptomatik waren Kopfschmerzen oder psychomotorische Störungen während des Schlafes.

 

Es wurde eine deutliche Korrelation festgestellt zwischen der Intensität oben genannter negativ wirkender Faktoren und dem Ausprägungsgrad psychischer Störungen und den Schwierigkeiten bei der Adaption und Integration der Migrantenkindern an und in die deutsche Gesellschaft.

 

Die Dynamik der psychischen Veränderungen im Grundschulalter sieht schematisch so aus:

Direkt nach der Einreise nach Deutschland entwickelte sich eine kurzfristige, aber ausgeprägte depressive Phase, danach eine Stimmungssteigerung, manchmal verbunden mit einer psychomotorischen Unruhe, gefolgt von einer erneuten depressiven Phase und einer anschließenden langsamen allmählichen Verbesserung der Stimmung. Diese Dynamik konnte sich unter dem Einfluß innerer und äußerer Ursachen verändern.

 

Unserer Beobachtung nach wirken sich folgende Faktoren positiv aus auf die Adaption und Integration dieser Altersgruppe:

 

1. Das Kind wurde in Deutschland geboren

2. Ein Elternteil ist gebürtiger Deutscher (in unseren Fällen waren dies die Väter oder Stiefväter)

3. Das Kind ist vor dem vierten oder fünften Lebensjahr nach Deutschland migriert.

4. Gute soziale Lage der Familie

5. Gesundes psychisches Klima in der Familie

6. Fehlende Risikofaktoren und fehlende psychische und körperliche Erkrankungen des Kindes

7. Möglichst viele Kontakte zur deutschen Gesellschaft, insbesondere zu gleichaltrigen Kindern

Unserer Beobachtung nach wirken sich folgende Faktoren negativ aus auf die Integration und Adaption und verstärkend und beschleunigend auf die Entwicklung des Migrationssyndroms:

 

1. Psychische und körperliche Störungen in der Lebensgeschichte und während der Migration

2. Vorhandene Risikofaktoren

3. Das Kind migrierte nach dem fünften Lebensjahr nach Deutschland

4. Ungünstige soziale Situation in der Familie des Kindes

5. Ungesunde psychische Situation in der Familie

6. Fehlen eines Elternteils (in unseren Fällen Fehlen der Väter)

7. Unzureichender Kontakt der Familie zur deutschen Gesellschaft, insbesondere zu Gleichaltrigen

8. Überwiegend Kontakte zu russisch sprachigen Gleichaltrigen

9. Negative Einflüsse der sozialen Umgebung, in erster Linie der Familie und durch Gleichaltrige

 

Dieses noch unvollständige Verzeichnis an Faktoren, die auf die Pathogenese und Klinik des Migrationssyndroms bei Kindern im Grundschulalter wirken, zeigt die ausgesprochene Kompliziertheit von diesen Prozessen, sowie die Kompliziertheit ihrer Bewertung und der anschließenden Behandlung. Diese Prozesse unterliegen einer komplizierten quantitativen und qualitativen Dynamik, wobei jeder dieser Faktoren oder eine Summe aus diesen Faktoren eine entscheidende und determinierende Rolle spielen kann.

Klinisch kann sich dies in unterschiedlichen Varianten äußern, wie z.B. durch affektive Störungen, Konzentrationsstörungen, kognitive Störungen, Verhaltensstörungen.

Diese Prozesse können sich schleichend entwickeln und können deswegen schwer zu bemerken seien. Fast immer erleben die Eltern und die Umgebung diese psychischen Veränderungen als charakterliche Besonderheiten des Kindes, als die Folgen schlechter Erziehung oder des schlechten Einflusses Gleichaltriger.

Zu uns wurden solche Kinder erst dann verwiesen, wenn die Symptomatik schon so ausgeprägt war, dass sich bereits stark entwickelte psychische und soziale Probleme in der Schule, in der Familie oder mit Gleichaltrigen zeigten.

 

Die Dynamik der Pathogenese, der Intensitätsgrad und die Besonderheiten der psychischen Störungen und sozialer Dekompensationen in dieser Altersgruppe hingen davon ab, welche Faktoren oder Summe von Faktoren, bzw. in welcher Intensität und Dauer sie auf das Kind wirkten.

 

 

3.4. Kinder im Grundschulalter, die in Deutschland geboren wurden oder vor dem fünften Lebensjahr migrierten

Die meisten Kinder aus dieser Gruppe waren gut integriert, beherrschten die deutsche Sprache gut und kannten die Mentalität der Gleichaltrigen. Sie konnten gut in der deutschen Gesellschaft kommunizieren und hatten sich besser in der Schule integriert.

Aber auch in dieser Altersgruppe zeigte sich die Tendenz, sich mit Kindern nichtdeutscher Herkunft, insbesondere mit russisch sprachigen Kindern zusammenzutun.

 

Im Einschulungsalter hatten diese Kinder bereits Probleme mit der russischen Sprache, ihre Umgangssprache war schon Deutsch, welches sie auch untereinander sprachen. Gegen Ende der Grundschulzeit hatte die Mehrzahl dieser Migrantenkinder schon die Tendenz, mit ausländischen, insbesondere russisch sprachigen Kindern zu kommunizieren, wenn in der Umgebung eine entsprechende Dichte russisch sprachiger Einwanderer bestand. Wenn in der Umgebung keine oder wenig Ausländer und russisch sprachige Migranten lebten, verliefen die Adaptions- und Integrationsprozesse deutlich schneller.

Kinder aus dieser Gruppe wurden zu uns überwiegend mit neurotischen Reaktionen, kognitiven Störungen oder Verhaltensstörungen verwiesen.

 

 

3.5. Kinder, die in ihrer Lebensgeschichte Nervenstörungen oder psychische Störungen aufweisen und nach dem fünften Lebensjahr migrierten

In dieser Gruppe hat die Migration eine Verschlechterung der Nervenstörungen oder psychischen Störungen verursacht, zu Adaptions- und Integrationsproblemen geführt und in einigen Fällen zu einer wesentlichen und andauernden Verlangsamung und Störung der Adaption und Integration.

Patient L.:

Der Patient migrierte im Alter von 7 Jahren nach Deutschland. Er habe noch einen drei Jahre älteren Bruder. Schon vor der Migration sei der Patient in Behandlung gewesen wegen verstärkter neurotischer Reaktionen und Ticks, die von leichter Hyperkinese begleitet waren. Die psychische Entwicklung habe im Normbereich gelegen. In Verbindung mit der Migration habe sich der Zustand des Kindes deutlich verschlechtert. Die oben beschriebene Symptomatik sei deutlich verstärkt aufgetreten, das Kind sei pädagogisch schlecht zu lenken gewesen, insbesondere habe sich die Hyperkinese verstärkt. Nach der Einschulung habe sich sein Zustand deutlich verschlechtert. Ticks und Hyperkinese hätten sich weiter verstärkt.

Katamnese nach 7 Jahren:

Der Patient befinde sich in systematischer Behandlung. Sein Zustand habe sich allmählich und kontinuierlich verbessert, die Intelligenz habe sich in Normbereich entwickelt. Die Schulleistungen seien durchschnittlich, aber sowohl in als auch außerhalb der Schule habe er Probleme wegen seines Verhaltens. Mit dem Einsetzen der Pubertät sei er pädagogisch nicht mehr zu erreichen gewesen. Gegen den Willen seiner Eltern habe er viel Zeit mit dissozialen Gleichaltrigen verbracht, die sich in seinem Wohngebiet in großen Gruppen träfen, und in denen geraucht und Drogen und Alkohol konsumiert würden. Der Patient habe schon früh angefangen zu rauchen und man könne schon charakterologische Veränderungen konstatieren.

Patientin K., 9 Jahre:

Nach Angaben der Eltern sei die Patientin sehr empfindlich, sie „unterscheide sich sehr von Gleichaltrigen“. In der Familie habe schon immer eine komplizierte und angespannte Situation geherrscht, die sich aber nach der Einreise nach Deutschland noch verschärft habe. Die Eltern hätten in Anwesenheit der Tochter in brutaler Form miteinander gestritten, hätten auch intimste Einzelheiten ausgebreitet, sich in grober Form Vorwürfe gemacht, das Kind als Waffe gegeneinander missbraucht. Auch die soziale Situation der Familie sei schlecht gewesen. In Verbindung mit den starken bestehenden psychischen Spannungen in der Familie hätten sich die Integrationsprozesse stark verzögert. Aufgrund der progredienten Verschlechterung ihres Zustandes und wegen wachsender Absonderlichkeiten im Verhalten, sowie wegen großer Lernschwierigkeiten wurde das Mädchen mit einer Differentialdiagnose zwischen Psychose und ausgeprägter psychischer Entwicklungsverzögerung von einem Psychologen an uns verwiesen. Gegen die kategorische Empfehlung eines deutschen Psychologen wurde die Patientin von ihren Eltern ins Gymnasium geschickt. Dort habe die Patientin von Anfang an große Lernschwierigkeiten gehabt. Es hätten sich große Beziehungsprobleme mit den Mitschülern entwickelt, diese hätten die Patientin für sehr merkwürdig gehalten und sie immer ausgelacht.

Katamnese nach vier Jahren:

Die Familie habe sich sehr langsam an die Migrationsbedingungen adaptiert und integriert und in der Familie habe sich die psychische Situation verbessert. Der Zustand der Patientin habe sich allmählich und kontinuierlich verbessert. Die Leistungen im Gymnasium seien durchschnittlich geworden, aber die Mitschüler bezeichneten sie als „komischen Kauz“.

Die komplizierte Migrantensituation kann bei einem Kind mit vorhandenen Risikofaktoren ausgeprägte und langfristige psychische Störungen provozieren.

 

Patient V., 9 Jahre:

Der jüngere Bruder habe bis zum Alter von drei Jahren unter epileptischen Anfällen gelitten. Vor der Einreise habe der Patient schon zwei Jahre die Grundschule besucht. Seine Leistungen seien überdurchschnittlich gewesen, es habe allerdings leichte Konzentrationsstörungen gegeben und er sei nicht gut organisiert und leicht zerstreut gewesen. Vor der Migration hätte in der Familie schon eine angespannte Situation geherrscht, die sich mit der Migration noch verschärft hätte. In der Familie gebe es extreme Streitereien, der Vater terrorisiere die ganze Familie und sei sehr grob zu dem Patienten. In Verbindung mit der Einreise habe sich beim Patienten ein depressiver Zustand entwickelt, zusammen mit Erregungszuständen, Enthemmung und Weinerlichkeit, der einige Wochen angedauert habe. Durch die andauernde psychotraumatische Situation und mehrere soziale Probleme in der Familie, habe sich der Zustand zunehmend verschlechtert. Nachdem der Patient in Deutschland angefangen habe, die Schule zu besuchen, machten sich schnell ausgeprägte Aufmerksamkeitsdefizite, kognitive Störungen, Zerstreutheit, Vergesslichkeit und Reizbarkeit stark bemerkbar. So habe er zum Beispiel in einem Winter nacheinander sechs Jacken im Bus vergessen. In der Schule habe er immer vergessen, die Aufgaben zu notieren, er sei während des Unterrichts unaufmerksam und seine Leistungen seien sehr schlecht. Der Patient verhalte sich in der Schule sehr zurückgezogen und verschlossen, insbesondere den Mitschülern gegenüber, nur einem wesentlich jüngeren Mitschüler gegenüber sei es nicht so Der Patient gebe sich Mühe, fleißig zu sein, er habe viel Zeit mit Lernen verbracht, aber er habe die Grundschule nur mit schlechten Noten absolviert, und so eine Empfehlung für die Gesamtschule erhalten.

Der Patient kam erst zwei Jahre nach der Einreise in unsere Behandlung. Außer der oben beschriebenen Symptomatik traten beim Patienten im EEG epilepsieartige Veränderungen auf.

Katamnese nach vier Jahren:

Entgegen der Empfehlung erfahrener Pädagogen schickten die Eltern den Patienten ins Gymnasium. Dies sei für den Patienten extrem schwierig gewesen. Er sei besonders schlecht in Mathematik und Deutsch gewesen und habe die fünfte Klasse wiederholen müssen Die Lehrer äußerten die Meinung, daß er auf dem Gymnasium überfordert sei.

Der Patient befindet sich bei uns in systematischer ambulanter Behandlung. In dieser Zeit habe sich die Situation in der Familie allmählich verbessert, bleibe aber weiterhin sehr unruhig. Erst nach zwei Jahren konnte man von einer deutlichen Verbesserung sprechen. Der Patient sei nun affektiv ausgeglichener, ruhiger und organisierter, seine Stimmung sei besser, er habe deutlich weniger Konzentrationsstörungen, aber sie seien noch vorhanden Die Schulleistungen seien deutlich besser geworden, er habe keine Klasse mehr wiederholen müssen und treibe erfolgreich Sport. Zur Zeit sei der Patient in der 10. Klasse auf dem Gymnasium mit durchschnittlichen Leistungen. Allerdings sei er in manchen Dingen noch desorganisiert, unkonzentriert, reizbar, zurückgezogen und ziemlich passiv.

3.6. Kinder mit einem fehlenden Elternteil

In den von uns beschriebenen Fällen fehlte stets der Vater. Das Fehlen des Vaters führte bei der Mutter, insbesondere in der ersten Migrationsperiode, zu einer Verstärkung des Migrationssyndroms, insbesondere zu Unsicherheitsgefühlen und Aufregung, etc., womit auch das Kind induziert wurde, was wiederum seine mit der Migration verbundene Dekompensation verstärkte.

 

Patient M, 11 Jahre:

Mehrere Jahre vor der Migration hätten sich die Eltern scheiden lassen. Der Patient habe noch eine ältere Schwester. Die Mutter sei von ihrem Charakter her aufgeregt und verletzlich, zugleich aber auch sehr aktiv und dominant. Die Einreise nach Deutschland habe für die Familie einen enormen Stress dargestellt. Die erste Zeit sei die Mutter der Überzeugung gewesen, einen unverzeihlichen, nicht wieder gut zu machenden Fehler durch die Einreise begangen zu haben, und dass man die Migrantensituation nie bewältigen werde und man von niemandem Hilfe erhalte. Mit dieser Stimmung habe sie auch den Patienten angesteckt. In der Familie herrsche eine sehr traurige Stimmung, die durch die Situation im Wohnheim noch verstärkt werde.

Direkt nach der Migration sei der Patient in die Schule gegangen. Ohne Sprachkenntnisse in einer ihm unbekannten und fremden Umgebung habe er sich total verloren gefühlt, obwohl Mitschüler und Lehrer sehr nett zu ihm gewesen seien. Seine Stimmung habe sich extrem verschlechtert, er weine viel, könne nicht schlafen, sei nicht in der Lage, sich auf das Lernen zu konzentrieren.

Der Arzt vermute suizidale Gedanken.

Katamnese nach 2 Jahren:

Die soziale Situation habe sich stabilisiert. Die Familie wohne in einer abgeschlossenen Wohnung, gemeinsam mit dem Freund der Mutter. Die Mutter habe nach dem Sprachkurs eine weitere Ausbildung begonnen. Der Zustand des Patienten habe sich deutlich verbessert. Nach Angaben der Mutter habe er sich stabilisiert und seine Schulleistungen seien gut geworden. Von seiner Symptomatik sei zurückgeblieben, dass er sich formell und zurückgezogen verhalte, bei Fremden vorsichtig und distanziert sei.

 

 

3.7. Kinder mit unzureichenden Kontakten zur deutschen Gesellschaft

 

Unzureichender Kontakt der Familie zur deutschen Gesellschaft und negative Einstellungen zu Deutschen führte bei Einwanderern, insbesondere bei solchen mit einem großen Mentalitätunterschied zur deutschen Gesellschaft zur Verstärkung der traumatisierenden Situation und Migrantendekompensation, was zu ausgeprägten psychischen Störungen führen konnte.

 

Patient P., 11 Jahre:

In der Familie habe sich aufgrund schwieriger sozialer Probleme, falscher Beurteilung der Migrationsbedingungen und negativer Einstellungen gegenüber der deutschen Gesellschaft eine sehr angespannte Situation entwickelt, von der der Patient beeinflußt wurde. Vor der Migration sei er ein guter Schüler gewesen, er habe gute Schulleistungen erbracht, wurde sehr geschätzt und war beliebt bei Gleichaltrigen und Erwachsenen. Nach der Einreise habe der Patient das Gymnasium besucht. Nach Angaben der Eltern sei der Patient in dieser Zeit „emotional instabil und sehr reizbar“ geworden. Die Beziehungen zu Mitschülern seien von Anfang an sehr schlecht gelaufen. Der Patient habe sich den Mitschülern gegenüber als sehr fremd erlebt, sie hätten offen „ihre negativen Beziehungen zu mir demonstriert“, mehrmals „Schlägereien provoziert, um die Möglichkeit zu haben, mich zu beschuldigen.“ Die Eltern berichteten, dass sich die Beziehungen zwischen dem Patienten auf der einen Seite und den Lehrern und der Schulleitung auf der anderen Seite sehr verschlechtert hätten, diese beschuldige ihn grundlos aller möglichen Taten. Durch diese Situation habe sich der Zustand des Patienten sehr schnell verschlechtert, er habe eine ausgeprägte Depression entwickelt mit Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. Er habe die fixe Idee, daß sich alle Deutschen ihm gegenüber schlecht verhielten, er habe außerdem ausgeprägte aggressive Tendenzen gegenüber deutschen Gleichaltrigen entwickelt. Der Patient habe nicht lernen können und wolle auch nicht ins Gymnasium gehen.

Katamnese nach 1,5 Jahren:

Schon nach kurzer Behandlung des Patienten und familientherapeutischer Behandlung der Eltern, die auch hinsichtlich sozialer Integration durchgeführt wurde, habe sich der Zustand des Patienten verbessert. Es wurde empfohlen, die Schule zu wechseln. Ohne weitere Behandlung habe sich die Situation der Familie verbessert. Der Patient zeige auf dem neuen Gymnasium gute Leistungen, auch die Beziehungen zu den Mitschülern seien gut.

3.8. Kinder, die negativ durch das Milieu von Gleichaltrigen beeinflußt werden

In der Migrantensituation spielt die Familie eine große Rolle, aber in Verbindung mit der Migration verändert sich diese Rolle. Allmählich vergrößert sich der Mentalitätsunterschied zwischen Eltern und Kindern, was dazu führt, dass die Eltern nach und nach die Kontrolle über ihre Kinder verlieren und die Kinder und Jugendlichen leicht unter den negativen Einfluss Gleichaltriger geraten. Dies kann zu gravierenden Folgen führen, insbesondere wenn bei dem Kind oder Jugendlichen entsprechende psychische oder soziale Risikofaktoren vorliegen.

 

Patient K., 10 Jahre:

Bereits vor der Migration habe der Patient Verhaltensprobleme und Leistungsprobleme in der Schule gehabt. Nach der Migration habe er eine andauernde depressive Reaktion entwickelt, er sei verschlossener geworden, habe ungern mit den Eltern gesprochen und sei zu ihnen grob gewesen. Der Kontakt zu den Eltern verschlechtere sich zunehmend, in einer unhöflichen Form verweigere er die Kontakte zu den Eltern und beantworte ihre Fragen nicht. Er unternehme alles Mögliche, um ein Einmischen der Eltern in seine Angelegenheiten zu verhindern. In der Schule leiste der Patient praktisch nichts, seine Leistungen seien sehr schlecht, obwohl seine formalen Fähigkeiten im Normbereich lägen. Er zeige keinerlei Interesse für etwas. Er verbringe die ganze Zeit mit seinen Freunden, überwiegend russisch sprachigen Jugendliche, die sich in großen Gruppen in seinem Wohngebiet träfen.

Katamnese nach 4 Jahren:

Während der Behandlung ließ die depressive und neurotische Symptomatik deutlich nach, aber der Kontakt zu den Eltern blieb weiterhin unzureichend. Er verschlechtere sich nach Angaben der Eltern weiter, so verbringe der Patient praktisch seine ganze Zeit mit seinen Freunden und informiere seine Eltern nicht, was dort geschehe. In der Schule arbeite er nicht und seine Leistungen seien sehr schlecht. Mit 13 habe er das Rauchen begonnen und vor kurzen sei bekannt geworden, dass der Patient Drogen konsumiere.

3.9. Kinder ab dem 10.Lebensjahr

Pathogenetische und klinische Veränderungen bei Kindern dieser Altersgruppe haben auch ihre Besonderheiten, die darin bestehen, daß der Migrationsstress in diesem Alter auf eine bereits reifere Psyche als in den vorher beschriebenen Altersgruppen trifft und diese somit auf den Migrationsstress anders reagiert. Die Reaktionen auf den Migrationsstress sind komplizierter als bei jüngeren Kindern, und die Auswirkung des Stresses hat andere qualitative und quantitative Parameter.

Die Altersgruppe lässt sich in folgende Gruppen unterteilen:

 

1. Präpubertät

2. Pubertät

3. Postpupertät

 

3.9.1. Kinder, die in der Präpubertät nach Deutschland migriert sind

Kinder, die vor der Präpubertät nach Deutschland migrierten, integrierten sich im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen besser in die deutsche Gesellschaft. Ihre Sprachkenntnisse und ihre Kenntnisse bezüglich der Mentalität der deutschen Gesellschaft waren für einen problemlosen Kontakt und schulisches Lernen ausreichend. Je länger das Kind in Deutschland lebte, desto geringer war der Einfluss des Migrationsstresses in der Präpubertät. Die Patienten aus dieser Altersgruppe wurden zu uns überwiegend aufgrund psychischer Störungen neurotischer Art überwiesen, wie z.B. kognitiver Störungen oder Verhaltensstörungen, die bei dieser Patientengruppe schon vor der Migration bestanden, sich aber unter dem Einfluss der Migrantensituation verstärkten. Bei Kindern, die vor der Migration Risikofaktoren hatten, konnte der Migrationsstress zu einer klinischen Manifestation führen.

 

Patientin G., 12 Jahre:

Die Patientin stamme aus Aserbaidschan. Außer der Patientin lebten in der Familie noch zwei Brüder und eine Schwester. In der Familie dominiere der strenge Vater. Das Mädchen sei in seinem Heimatland in strenger, patriarchalischer und muslimischer Tradition erzogen worden. Von seinem Charakter her sei es eher empfindlich, verletzlich, scheu und zurückgezogen, obwohl es sich gerne in Gesellschaft Gleichaltriger befinde wolle. Im Aufnahmelager fühle sich die Patientin verloren, sie wisse nicht, wie sie sich den Gleichaltrigen unterschiedlicher Herkunft und Mentalität gegenüber verhalten solle. Kurze Zeit nach der Einreise habe sich bei dem Mädchen eine ausgeprägte Depression mit zahlreichen Ängsten entwickelt, so habe es Angst, nach draußen zu gehen, sei weinerlich und verweigere den Kontakt zu Gleichaltrigen und erwachsenen Bekannten. Weiterhin habe die Patientin Angst, zum Arzt zu gehen. Die Patientin sei bereits einige Zeit in intensiver ärztlicher Behandlung gewesen, es habe auch eine Familientherapie stattgefunden.

Katamnese nach 2,5 Jahren:

In der Familie hätten sich die ehemaligen patriarchalischen Strukturen abgeschwächt. Die erste Zeit habe die Patientin weiterhin Kontaktprobleme zu Gleichaltrigen gehabt, aber der Zustand habe sich allmählich gebessert und der depressive Zustand sei verschwunden. Zum Zeitpunkt des letzten Kontaktes hat das Mädchen keinerlei depressive Erscheinungen mehr gezeigt, ihre Schulleistungen seien gut und sie habe unterschiedliche soziale Aktivitäten, pflege mehrere Freundschaften, bevorzugt mit russisch sprachigen Jugendlichen.

 

In diesem Fall haben außer den Risikofaktoren (den charakterlichen Besonderheiten des Mädchens) insbesondere die bestehenden Unterschiede zwischen der Mentalität der patriarchalisch-muslimischen Familie und der deutschen Gesellschaft die psychische Dekompensation verstärkt.

 

Die Migrantensituation kann schon vorhandene psychische Störungen bedeutend verschlechtern.

 

Patientin O., 11 Jahre:

In der Familie leben noch drei jüngere Schwestern. Das Mädchen habe sich seit dem Kleinkindalter in ärztlicher Behandlung befunden wegen leichter psychischer Entwicklungsverzögerung, ausgeprägter neurotischer Symptomatik und Verhaltensstörungen. Die Schulleistungen seien schlecht. Ein Jahr vor der Migration habe sich der Zustand der Patientin verschlechtert aufgrund des mit der Migration verbundenen Stresses. Sie sei nicht in der Lage gewesen, eine öffentliche Schule zu besuchen und wurde deshalb zuhause von Lehrern unterrichtet. Nach der Einreise nach Deutschland habe sich die Situation in der Familie weiter verschlechtert, die Eltern verschwiegen die Erkrankung der Patientin und ließen sie in eine normale Schule einschulen. Der Zustand der Patientin habe sich deutlich verschlechtert, so sei sie reizbarer geworden mit aggressiven Tendenzen in der Schule und zuhause, so provoziere sie Schlägereien mit Mitschülern und Schwestern. Sie sei depressiv und weinerlich. Die Schulleistungen seien so schlecht gewesen, dass sie drei Jahre kein Zeugnis erhalten habe, „aufgrund ihrer schlechten Deutschkenntnisse“. Viele Arbeiten schreibe sie einfach nicht mit und gebe leere Blätter ab. Sie habe hauptsächlich Kontakt zu russisch sprachigen Gleichaltrigen, in deren Hierarchie sie eine untergeordnete Rolle einnehme. Unter dem Einfluss einer Freundin habe sie angefangen, in Geschäften zu klauen. Die Patientin befinde sich seit der Einreise in ärztlicher Behandlung.

 

Katamnese nach 3,5 Jahren:

Allmählich verbesserte sich der Zustand der Patientin und auch ihre Leistungen in der Schule. Die Patientin adaptiere sich an die schulischen Bedingungen, sie gewinne gebürtige Deutsche zu Freundinnen und sei in der Klasse nicht mehr so zurückgezogen. Nach Angaben der Eltern habe sie in der Schule fast das Durchschnittsniveau erreicht.

3.9.2. Kinder, die in der Pubertät migrierten

Wir haben den Eindruck gewonnen, dass Kinder, die in der Pubertät nach Deutschland migrierten, am stärksten von der Migration betroffen sind, weil bei ihnen die Bildung der Persönlichkeit und die hormonellen Veränderungen mit dem Migrationsstress zusammentreffen. In diesem Fall hat der Migrationsstress eine stärkere Wirkung auf die pathogenetische Mechanismen und entsprechend auf die Klinik des Migrationssyndroms, auf seinen Charakter und den Grad der Ausprägung bestimmter Syndrome.

 

Patienten O., Geschwister, männlich 16,5 Jahre, weiblich, 14 Jahre:

Die Jugendlichen stammen aus Kasachstan und migrierten mit einer großen Familie nach Deutschland. Sie sind nicht wie üblich in einem Wohnheim untergebracht worden, sondern bezogen mit ihrer Familie eine separate Wohnung. In der Familie herrsche eine angespannte Situation, der Vater sei Alkoholiker. Beim Bruder seien vor der Einreise nach Deutschland leichte neurotische Störungen aufgetreten gewesen, bei der Schwester leichte

Stoffwechselstörungen. Nach Angaben der Eltern seien in der Familie und bei den Kindern keine Phasen depressiver oder manischer Störungen bekannt. Nach der Einreise nach Deutschland habe sich der Zustand der Patienten sofort gravierend verschlechtert. Bei den Geschwistern habe sich rasch eine ausgeprägte Depression entwickelt, sie wollten nicht mehr die Wohnung verlassen oder Kontakte zu gleichaltrigen russisch sprachigen Jugendlichen aufbauen. Sie wollten zurück nach Kasachstan und seien zu hause sehr zurückgezogen und passiv gewesen. Trotz intensiver Behandlung habe dieser Zustand mehrere Wochen angedauert.

 

Katamnese nach 1,5 Jahren:

Der Zustand der Patienten verbessere sich allmählich. Ihre Stimmung sei gut geworden. Die Kinder besuchen die Schule aktiv mit durchschnittlichen Leistungen, haben mehrere Freunde und helfen den Eltern im Haushalt.

Die Erkrankungen und Risikofaktoren wurden bei den Jugendlichen, die in der Pubertät migrierten, durch die Migrantensituation intensiviert und die Erkrankungen dauerten länger an.

 

Patientin, 14 Jahre:

Die Mutter charakterisiert die Tochter als eine empfindliche, verletzliche Persönlichkeit, als „ein Kind mit einer sehr zerbrechlichen Psyche“. Das Mädchen leide auch unter vegetativen Störungen. Nach der Einreise habe sich der Zustand der Patientin deutlich verschlechtert, es entwickelten sich ausgeprägte depressive Reaktionen. Nach einem grippalen Infekt entwickelten sich bei der Patientin nächtliche psychomotorische Zustände mit Bewusstseinsstörungen. Nach diesen Vorfällen verschlechterte sich der Zustand des Mädchens verstärkt. Die Depression sei noch stärker geworden, noch intensiver seien hypochondrische Symptome aufgetreten. Das Mädchen habe Probleme mit Gleichaltrigen in Schule und Wohnheim. Trotz einer guten formalen Begabung habe sie ernsthafte Lernschwierigkeiten, insbesondere mit der deutschen Sprache.

 

Katamnese nach 3 Jahren:

Trotz intensiver ambulanter Behandlung blieb der psychische Zustand der Patientin zunächst schlecht. Periodische Verbesserungen wechselten mit ausgeprägten Stimmungstiefs. Nach einigen Monaten andauernder Verschlechterung, entwickelte sich bei der Patientin eine Anorexie mit bulimischen Phasen, es stellten sich Menstruationstörungen ein. Zwei Jahre lang sei der Zustand der Patientin instabil gewesen, mit ausgeprägten langfristigen depressiven Phasen mit zeitweisen Verbesserungen der Anorexie. Nach einer langfristigen Behandlung verbesserte sich der Zustand der Patientin langsam. Zum Zeitpunkt der letzten Untersuchung ist der Zustand der Patientin deutlich verbessert, auch die Stimmung hat sich verbessert, obwohl noch immer leichte Stimmungsverschiebungen zum depressiven Pol vorliegen. Die Patientin hat sich mittlerweile gut integriert, sie ist aktiv, die vegetativen Störungen und Menstruationsstörungen sind abgeklungen.

 

 

3.9.3. Jugendliche, die im Postpubertätsalter migrierten

In diesem Alter reagierten die Jugendlichen auf die Migration ebenfalls mit einer depressiven Reaktion. Als Besonderheit des depressiven Symptoms dieser Altersgruppe traten im Vergleich zu den vorher genannten Gruppen verstärkt Minderwertigkeitsgefühle, Selbstzweifel, Zukunftsängste und Verlorenheitsgefühle auf. Als Besonderheit dieser Altersgruppe konnte man die Neigung feststellen, ihren Zustand zu dissimulieren. Die Jugendlichen versuchten, selbständiger zu erscheinen, verweigerten die Hilfe des Psychiaters und anderer Fachleute und bemühten sich, mit ihrer Problematik allein zurecht zu kommen.

 

Bei Jugendlichen mit vorhandenen Risikofaktoren oder bestehenden Erkrankungen traten öfter psychosomatische Beschwerden auf als in den vorher beschriebenen Gruppen.

 

Nach einer kurzfristigen depressiven Reaktion auf die Migration, trat bei Jugendlichen aus dieser Altersgruppe in der Regel eine leichte Stimmungsverbesserung mit euphorischen Zügen auf, die jedoch nicht lange anhielt. Sie wurde abgelöst von einem lang andauernden Stimmungstief, welches viele Monate bestehen und in der Ausprägung zwischen subdepressiven und starken depressiven Zuständen variieren konnte. Danach folgte gewöhnlich eine langfristige Verbesserungsphase des Zustandes, die jahrelang anhalten konnte. In dieser Zeit konnten sich charakterologische Besonderheiten formieren, mit depressiven oder neurotischen Zügen.

 

Eine große Besonderheit in der Dynamik des Migrationssyndroms in dieser Altersgruppe spielte die soziale Situation und die Adaptions- und Integrationsfähigkeit des Jugendlichen in die deutsche Gesellschaft.

Selbstverständlich existieren Abweichungen von diesem Schema. Bei den Mädchen in dieser Altersgruppe waren die Adaptions- und Integrationsfähigkeiten ausgeprägter.

 

 

3.10. Junge Erwachsene

Zu dieser Altersgruppe gehören Personen zwischen 18 und 28 Jahren. Die Gruppe ist bezüglich der Analyse und der Beschreibung am schwierigsten zusammenzufassen. Deswegen beschränken wir uns in dieser Arbeit auf die Beschreibung nur einiger der nach unserer Meinung wichtigsten Besonderheiten dieser Migrantengruppe. Die Gruppe ist in sich sehr unterschiedlich, in Herkunft, Ausbildung, Mentalität etc., und auch in der Ausprägung psychischer Reaktionen, Störungen und Dekompensationen, die mit der Migration verbunden sind.

Nach unserer Ansicht spielen in dieser Altersgruppe folgende Faktoren eine wichtige Rolle:

 

1. Das Geschlecht

2. Das Alter

3. Körperlicher Zustand

4. Psychischer Zustand

5. Besonderheiten der Persönlichkeit

6. Besonderheiten der Mentalität

7. Kulturelles Niveau

8. Soziale Situation

9. Bildungsniveau und Beruf

10. Familiäre Situation

11. Soziale Ansprüche

12. Grad und Qualität der Adaption an und Integration in die deutsche Gesellschaft

 

Für die Formierung des Migrationssyndroms in dieser Altersgruppe ist nach unserer Beobachtung von Patienten und interviewten Migranten folgendes entscheidend:

 

1. Die individuelle Zusammensetzung einzelner oder von Summen oben genannter Faktoren

2. Andauern des Migrantenstresses

3. Intensität des Migrantenstresses

4. Andere Besonderheiten der Migrantensituation

Die führende Symptomatik bestand aus unterschiedlich ausgeprägten depressiven oder neurotischen Reaktionen und bei vorhandener Disposition aus vegetativen und somatischen Störungen.

 

Bei den Patienten mit vorhandenen psychischen Störungen konnte man in Verbindung mit der Migration in der ersten Zeit nach der Einreise eine deutliche Verschlechterung beobachten. Wie wir feststellten, waren die affektive Labilität und die neurotischen Reaktionen um so ausgeprägter, je jünger der Migrant war.

 

In dieser Altersgruppe waren die charakterologischen Veränderungen und Persönlichkeitsänderungen in Verbindung mit der Migration nicht so ausgeprägt wie in den oben beschriebenen Altersgruppen.

Die Dynamik des Migrationssyndroms in dieser Altersgruppe beginnt gewöhnlich mit einer Stimmungssteigerung, zum Teil. in Verbindung mit euphorischen Zügen.

Darauf folgt eine depressive Phase, in Abhängigkeit von oben genannten Ursachen und von den Unterschieden zwischen den eigenen Ansprüchen und dem tatsächlichen Adaptions- und Integrationsgrad.

Migrant M., 24 Jahre:

M. kam aus einem kleinen russischen Staat als jüdischer Emigrant nach Deutschland. Er sei verheiratet. Er gibt an, Fahrer und Kfz-Mechaniker als Beruf vor der Migration ausgeübt zu haben. Direkt nach der Einreise nach Deutschland sei er vom großen, vielfältigen Warenangebot begeistert gewesen, vom hohen materiellen Niveau der Bevölkerung und besonders von Quantität und Qualität der Fahrzeuge, dem Zustand der Straßen und Autobahnen und insgesamt dem Wohlhaben des Landes. Seine Stimmung sei in der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Deutschland gehoben gewesen, er habe sich für alles Deutsche begeistert, er habe keine negativen Bemerkungen über die deutsche Realität geduldet. M. habe sich sehr günstig ein gebrauchtes deutsches Auto einer guten Marke gekauft. Er habe es selbstständig repariert und sei sehr stolz, ein solches Auto zu besitzen. Er sagte, er sei noch nie so glücklich gewesen, da er alles habe, was man sich wünschen könne, da er sich keine Gedanken machen müsse, wo er etwas zu essen bekäme, da er ein Dach über den Kopf habe, da er ein wunderschönes Auto habe und da er wunschlos glücklich sei.

 

Katamnese nach 2,5 Jahren:

Der Patient hat den Sprachkurs mit schlechtem Ergebnis absolviert. Unter dem Druck des Sozialamtes mußte er sein Auto billig abgeben. Er habe begonnen, die deutsche Realität mit ganz anderen Augen zu sehen. Er sehe für sich keine Perspektive in Deutschland, da er die Sprache nicht beherrsche und, er keine Möglichkeiten habe, in seinem Beruf zu arbeiten. Seine Frau fände ebenfalls keine Arbeit und habe keine beruflichen Perspektiven, sie habe auch nur schlechte Sprachkenntnisse. M. gibt an, sich wie ein Aussätziger zu fühlen, er erlebe sich als unfähig, irgend etwas zu machen, und er befürchte, sich nie an das Leben in Deutschland anpassen zu können. Alle seien Lügner und er wisse nicht, wem er vertrauen könne, jeder sei nur mit seinen Problemen beschäftigt, auch seiner Frau vertraue er nicht mehr. M. lehnt es ab, die Hilfe eines Arztes oder eines Psychologen in Anspruch zu nehmen. Erst nach 1,5 Jahren Aufenthalt in Deutschland habe sich sein Zustand allmählich angefangen zu verbessern. Er habe mit großer Mühe eine Tätigkeit als Hilfsarbeiter aufgenommen, und glaube nicht mehr, in seinem Beruf eine Anstellung zu finden. Nach den Angaben seiner Frau sei er nach wie vor immer sehr schlecht gelaunt und behaupte, daß die Lebensbedingungen in Deutschland zwar deutlich besser als vor der Migration seien, er sich aber als sehr benachteiligt empfinde.

Die Frau berichtet weiter, daß sich der Zustand allmählich verbessere, er sei etwas aktiver geworden und es sei ihm schließlich gelungen, in einem anderen Bundesland eine bessere Arbeit zu finden, aber die Grundstimmung sei nach wie vor depressiv.

 

Bei den Migranten aus dieser Altersgruppe, die bereits vor der Migration an einer Psychose litten, führte die Migrantensituation zu einer deutlichen Verstärkung der psychotischen Symptomatik und beeinflusste den Verlauf der Psychose negativ.

 

Patient G., 22 Jahre:

Vor der Migration sei er schon wegen Schizophrenie in mehrmonatiger stationärer Behandlung gewesen und sei in gut kompensiertem Zustand entlassen worden. Direkt nach der Einreise in Deutschland habe sich sein psychischer Zustand rasch verschlechtert, er habe einen Verfolgungswahn entwickelt. Sein Verhalten sei bizarr geworden, er habe angefangen, Alkohol zu missbrauchen, und er sei wiederholt von der Polizei beim Diebstahl erwischt worden.

 

Katamnese nach 2,5 Jahren:

Nach einigen Monaten ambulanter Behandlung mit hochpotenten Neuroleptika sei der Zustand des Patienten deutlich besser geworden, er habe den Sprachkurs absolviert, eine Ausbildung zum Autolackierer gemacht und arbeite nun in seinem Beruf. Zur Zeit des letzten Kontaktes war der Patient psychisch und sozial gut kompensiert, man konnte noch eine leichte Persönlichkeitsstörung feststellen.

 

Patient A., 27 Jahre:

Nach Angaben der Mutter hätten sich die ersten psychotischen Symptome im Alter von 12 Jahren gezeigt. Der Zustand des Patienten habe sich allmählich und kontinuierlich verschlechtert. Nach dem Abschluß der Mittelschule mit befriedigenden Leistungen sei der Patient nicht mehr in der Lage gewesen, eine weitere Ausbildung zu machen. Zu dieser Zeit habe sich bei dem Patienten Verfolgungswahn entwickelt, verbunden mit ausgeprägten pathologischen Verhaltensweisen. Alle Behandlungsversuche seien erfolglos gewesen. In Verbindung mit der Migration habe sich sein Zustand deutlich verschlechtert, die Wahnideen hätten zugenommen und die Verhaltensstörungen seien ausgeprägter geworden. Alle Behandlungsversuche lehne der Patient kategorisch ab.

 

Katamnese nach 3,5 Jahren:

Erst nach 1,5 Jahren in Deutschland habe sein Zustand angefangen, sich zu verbessern. Zum Zeitpunkt des letzten Kontaktes äußerte der Patient nach wie vor Verfolgungswahn, es fehlte jede Kritik zu seinem Zustand und nach wie vor lehnte er alle Behandlungsvorschläge ab.

 

 

4. Analyse der Zusammenhänge zwischen den Formen des Migrationssyndroms und sozialer Umstände

Außer den oben genannten Faktoren spielen die Reaktion des sozialen Milieus und die Reaktionen des Migranten auf die deutsche Umgebung eine wichtige Rolle für die Formierung des Migrationssyndroms. Im Vorschulalter, im Grundschulalter und insbesondere im höheren Schulalter konnte man sehr oft einen negativen Einfluss des kindlichen Milieus auf die gleichaltrigen Migranten feststellen. Dies betraf insbesondere die Kinder mit nicht ausreichender Integration und Adaption, sowie die Kinder mit Risikofaktoren und/oder mit körperlichen und psychischen Problemen.

 

Mit zunehmendem Alter wird der Mentalitätsunterschied zwischen den migrierten Kindern und jungen Erwachsenen und gleichaltrigen gebürtigen Deutschen größer. Gleichzeitig formiert sich die Entfremdung zwischen den Migranten und gleichaltrigen Deutschen, insbesondere bei den Migranten, die noch nicht so lange in Deutschland leben oder schlecht adaptiert, bzw. integriert sind.

Parallel zeigt sich bei den russisch sprachigen Kindern und Jugendlichen die Tendenz, sich zusammen zu schließen. Mit zunehmendem Alter steigt diese Tendenz. Viele russisch sprachigen Kinder beantworten die Frage, warum sie keine deutschen Freunde haben, wie folgt: „Wir verstehen sie nicht, sie gefallen uns nicht, wir haben kein Interesse, Kontakt zu ihnen zu haben.“

Auch bei den Kindern mit einem hohen Adaptions- und Integrationsniveau haben wir diese Tendenz in der Pubertät und Postpubertät beobachtet.

 

Patientin O., 16 Jahre:

O. kommt zu uns in Behandlung wegen Enuresis. Äußerlich ist die Patientin sehr attraktiv, synton und kontaktfreudig. Nach Angaben der Mutter sei die Patientin bei Lehrern und Mitschülern sehr beliebt. Sie habe immer sehr gute Leistungen erbracht und sei die Klassenbeste gewesen.

Frage: Wer sind deine Freunde?

Antwort: Fast alle Schüler in der Klasse und mehrere Gleichaltrige außerhalb der Schule.

Frage: Wie verhalten sich Deine Mitschüler und die Lehrer Dir gegenüber?

Antwort: Sehr gut!

Frage: Spürst Du in deiner deutschen Umgebung in irgendeiner Art, dass Du keine gebürtige Deutsche bist?

Antwort : Nein.

Frage: Hast Du eine enge Freundin und wie heißt diese?

Antwort: Ja. (Nennt einen russischen Namen)

Frage: Und warum hast Du keine engere deutsche Freundin?

Die Patientin reagiert in ihrer Mimik mit Abscheu und antwortet nicht verbal.

 

Diese Tendenz zur gegenseitigen Fremdheit zwischen den gleichaltrigen Migranten und Deutschen ruft von Anfang an depressive Reaktionen bei den Migranten und danach eine weitergehende Entfremdung vom deutschen Milieu hervor.

 

Allmählich entwickeln sich bei den Migranten Minderwertigkeitskomplexe, die Teil der Persönlichkeit des Migranten werden können, und nicht selten konnten wir bei den russisch sprachigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen spezifische Persönlichkeitsänderungen und charakterologische Züge dieser Art beobachten.

Die von uns beobachteten depressiven Entwicklungen bei den oben beschriebenen Migrantengruppen sowie die charakterologischen Veränderungen oder Persönlichkeitsveränderungen kann man in drei Typen unterteilen:

 

1. Depressiver Typ

Typisch waren hierbei eine verminderte Grundstimmung, Minderwertigkeitsgefühle, die Neigung zu verzögerten depressiven Reaktionen und Zurückgezogenheit.

2. Neurotischer Typ

Die führende Symptomatik bestand aus neurotischen Reaktionen mit erhöhter Reizbarkeit, sowie aus der Neigung zu aggressiven Reaktionen.

 

3. Gemischter Typ

Keiner der zuvor genannten Typen steht allein im Vordergrund, periodisch konnte einer von ihnen überwiegen oder sie waren in gleicher Ausprägung vorhanden.

 

Mit den Jahren konnten diese Symptome bei allen drei Typen nicht selten Teil der Persönlichkeit werden und negativ auf die Adaptions- und Integrationsprozesse wirken.

 

Am ausgeprägtesten sind die sozialen Risikofaktoren in der zweiten Gruppe. Die Vertreter dieser Gruppe haben deutlich stärkere Tendenzen zur Gruppierung untereinander, haben mehr Neigungen zu asozialen Verhaltensweisen, zu Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch und entsprechend zu kriminellen Handlungen. Die meisten russisch sprachigen Drogenabhängigen stammen aus dieser Gruppe.

 

Unserer Beobachtung nach wurden die russisch sprachigen Migrantinnen deutlich besser von gebürtig deutschen Männern akzeptiert als die männlichen Migranten von den gebürtig deutschen Frauen. Wir haben den Eindruck, dass die Adaptions- und Integrationsfähigkeiten bei den Frauen aus dieser Altersgruppe auch deutlich besser sind.

 

 

5. Diagnostik des Migrationssyndroms

Spezifische ätiologische Faktoren und Besonderheiten der Pathogenese und Klinik erschweren die Diagnostik der psychischen Störungen bei den Migranten in Folge des Migrationssyndroms in einem bedeutenden Grad. Der diagnostische Prozess verkompliziert sich noch sowohl im mikro- als auch im makrosozialen Milieu, worauf die Migranten sehr spezifisch und unterschiedlich reagieren, was wiederum zu einer Rückkopplung bezüglich der Problematik der Diagnostik führt. Die Diagnostik sollte immer auf die Besonderheiten der Persönlichkeit der Migranten, auf ihren psychischen und körperlichen Zustand und latent verlaufende Erkrankungen und Risikofaktoren Rücksicht nehmen. Berücksichtigt werden müssen auch sich ständig ändernde qualitative und quantitative Parameter oben genannter Faktoren. Die Bewertungen des eigenen Zustandes durch die Migranten und die Reaktionen auf diesen Zustand sind sehr variabel. Die Diagnostik kompliziert sich auch durch Dissimulationen und Aggravationen. Geschlecht und Alter der Migranten haben eine große Bedeutung für die Diagnostik des Migrationssyndroms. Die vorhandenen prämorbiden psychischen Störungen oder psychischen Erkrankungen können sich deutlich ändern unter dem Einfluss der Migrantensituation, was auch in der Diagnostik berücksichtigt werden muss. Die diagnostische Beurteilung sollte in sich alle oben genannten Parameter einschließen.

 

 

<!--[if !supportLists]-->6. <!--[endif]-->Die Prinzipien der Behandlung des Migrationssyndroms

Die Behandlung des Migrationssyndroms sollte in erster Linie auf die Behandlung der Ursache gerichtet sein, d.h. auf eine Abschwächung des Migrantenstresses:

 

1. Die Klärung und wenn möglich die Verbesserung der sozialen Situation der Migranten

2. Individuelle Planung von Adaptions- und Integrationsmaßnahmen für Migranten

3. Psycho- und Familientherapie

4. Adäquate und der Klinik entsprechende medikamentöse Behandlung

5. Bei Bedarf langfristige medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung

6. Prävention von Rückfällen in psychische Dekompensationen und Erkrankungen

 

7. Prävention psychischer Störungen bei russisch sprachigen Migranten

Die Prävention der psychischen Störungen bei russisch sprachigen Migranten ist noch nicht ausreichend untersucht und erforscht. Die soziale Unterstützung der Migranten entspricht den gegenwärtigen Normen. Es besteht die dringende Notwendigkeit, fundierte und fachkundige psychosoziale, psychologische und psychiatrische Prävention insbesondere bei Kindern und Jugendlichen durchzuführen. Die Prävention sollte in enger Kooperation von Psychiatern, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeitern und Soziologen durchgeführt werden. Um angemessene präventive Hilfen einsetzen zu können, muß man zuerst sozialpsychologische und psychiatrische Forschung und Untersuchungsmaßnahmen bezüglich der Voraussetzungen der psychischen Störungen bei Migranten durchführen.

 

 

8. Suchterkrankungen bei russisch sprachigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Zu diesem Thema haben wir bereits eine andere Arbeit veröffentlicht. Deswegen beschränken wir uns in dieser Arbeit auf einen kurzen Überblick zu dieser Problematik.

 

 

8.1. Epidemiologie

 

1994 kam zu uns nur ein Patient, der bereits in Kasachstan seine Drogenkarriere begann. Im Drogenhilfezentrum Saarbrücken sind die ersten russisch sprachigen Drogenabhängigen vor 4-5 Jahren erschienen. Ihre Präsenz im Drogenhilfezentrum stieg schnell und kontinuierlich und zur Zeit sind unter den circa 200 täglichen Besuchern 20-30 russisch sprachige Migranten. Uns ist bekannt, dass bei weitem nicht alle russisch sprachigen Drogenabhängigen im Saarland diese Einrichtung besuchen. Nach Angaben des Drogenhilfezentrums halten sich die Migranten immer abseits, in kleinen Gruppen zusammengeschlossen, und es gebe kaum Kontakt zwischen den russisch sprachigen Süchtigen und den Mitarbeitern des Zentrums. Die Mehrzahl der russisch sprachigen Drogenabhängigen konsumiere Heroin.

 

Während unserer Untersuchung konsumierten die meisten der abhängigen Migranten Heroin, die Konsumenten bewegten sich im Alter zwischen 20 und 28 Jahren, und waren fast ausschließlich männlich. Die meisten süchtigen Migranten sind als Jugendliche nach Deutschland eingereist und der erste Kontakt mit Drogen fand erst in Deutschland statt. Fast alle stammen aus stabilen Familien mit dominanten Eltern, die meistens beide arbeiten würden. Die meisten Migranten besaßen vor der Suchterkrankung ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, die ihnen erlaubten, zu arbeiten oder zu studieren. Die Familie erfahre von der Drogenabhängigkeit des Patienten zu einem weit fortgeschrittenen Zeitpunkt, an dem sich die Krankheit nicht mehr verheimlichen lasse. Die familiären Beziehungen verschlechterten sich nach Bekanntwerden der Suchterkrankung und zerbrachen teilweise.

 

Von den untersuchten und interviewten Migranten hatten circa 80% der Männer Kontakt mit Drogen und circa 30% betrieben systematischen Drogenmissbrauch. Ein Tagesbedarf an Drogen kostet zwischen 40 und 800 DM. Nach Angaben von Patienten und Interviewten liegt der Drogenhandel zur Zeit in der Hand von russisch sprachigen Dealern. Viele russisch sprachigen Drogenkonsumenten hatten bereits Kontakt mit der Polizei.

Erst in den letzten zwei Jahren sind Drogenabhängige in Erscheinung getreten, deren Drogenkarriere bereits vor der Migration begann.

 

8.2. Die Besonderheit der Ätiologie und Pathogenese

Eine so schnelle Verbreitung der Suchtkrankheit bei russisch sprachigen Migranten in Deutschland hat eine Summe von Ursachen und die Manifestation, der Verlauf und die Prognose dieser Erkrankung hängen von der Kombination dieser Ursachen ab. Bei keinem der von uns untersuchten Drogenabhängigen konnten wir vor der Suchterkrankung ausgeprägte psychische Störungen feststellen.

 

Die typischen Wege der russisch sprachigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen verliefen wie folgt:

1. Die psychosozialen Phänomene, die wir im oberen Kapitel beschrieben haben, haben eine bestimmte Gruppenbildung russisch sprachiger Jugendlicher mit einer spezifischen Besonderheit der Mentalität und Moral verursacht. In diesen Gruppierungen beginnt ein Jugendlicher mit dem Drogenmissbrauch und allmählich werden auch die anderen Gruppenmitglieder in den Drogenmissbrauch mit einbezogen.

2. Erfahrene Dealer verführen die Jugendlichen mit großen Verdienstmöglichkeiten von 2000-3000 Mark pro Tag zum Drogenhandel und diese Kleinsthändler werden selbst schnell süchtig.

 

8.3. Die Besonderheiten der Klinik

Bei den russisch sprachigen Drogenabhängigen in Deutschland konnte man folgende Besonderheiten feststellen.

1. Die Tendenz zur Gruppenbildung und Kontaktschwierigkeiten zu den Mitarbeitern deutscher Institutionen, die mit der Drogenproblematik beschäftigt sind. In den Gruppen herrscht eine spezifische Mentalität mit einer Tendenz zum kriminellen Verhalten und gegenseitiger Deckung. Die deutschen Drogenabhängigen charakterisieren die russisch sprachigen Drogenabhängigen als zuverlässige Dealer mit Mitgefühl, sie würden auch Drogen verleihen, aber sie reagierten sehr hart und brutal, wenn ihnen irgendetwas nicht gefalle.

2. Die meisten der süchtigen Migranten missbrauchen „harte“ Drogen, überwiegend Kokain und Heroin.

3. Die russisch sprachigen Süchtigen sind körperlich und psychisch stabiler als die deutschen Drogenabhängigen, weil ihr durchschnittliches Alter jünger und die Drogenkarriere kürzer ist. Fast alle von ihnen rauchen, der Alkoholmissbrauch spielt eine untergeordnete Rolle, und nicht selten dient er als Ersatz für den Drogenmissbrauch.

4. In der Klinik der Drogenabhängigen überwiegen depressive und neurotische Syndrome mit Tendenz zur Explosivität und Aggressivität.

5. Auch bei bereits vorhandener Krankheitseinsicht vermeiden die meisten russisch sprachigen Süchtigen die Behandlung und wollen keine Beratungsstelle oder andere Institutionen, die psychologische oder psychiatrische Hilfe bieten könnten, aufsuchen.

6. Wir haben den Eindruck, dass bei den russisch sprachigen Süchtigen ein höheres Risiko für eine Drogenüberdosis besteht.

7. Die stationäre Behandlung ist erschwert durch den Mentalitätsunterschied zwischen den russisch sprachigen Abhängigen und dem deutschen Team in der Klinik. Es fehlt auch die Motivation, in Behandlung zu gehen. ( Eine Klinik wird oft nur unter dem Druck von Verwandten aufgesucht. Wenn in einer Klinik mehrere russisch sprachigen Patienten aufeinander treffen, bilden sie schnell eine eigene Gruppe und brechen oft die Behandlung ab.)

8. Öfter als bei deutschen Patienten werden auch ambulante Behandlungen abgebrochen.

 

 

 

 

 

8.4. Die Besonderheiten der Behandlung

1. Für den Behandlungsprozeß spielt die Familie eine größere Rolle als dies bei deutschen Süchtigen der Fall ist. Deswegen wurden, wenn möglich die Familienmitglieder in den Behandlungsprozeß mit einbezogen und es wurde eine Familientherapie durchgeführt. Die Verwandten wurden geschult, die Betroffenen zu kontrollieren und Rückfällen mit vorzubeugen. Sie lernten, wie sie sich den Betroffenen gegenüber verhalten sollten.

2. Während der stationären Behandlung ist es notwendig, soweit wie möglich alle Kontakte zwischen den russisch sprachigen Patienten zu unterbinden, außer in spezialisierten Abteilungen für ausschließlich russisch sprachige Patienten.

3. Um die im klinischen Bild ausgeprägten neurotischen und depressiven Syndrome, Schmerzsyndrome und Schlafstörungen zu behandeln, haben wir während des Entzuges außer der üblichen Medikation Levomepromazin bevorzugt eingesetzt, weil es eine ausgeprägte sedative, antidepressive und analgetische Wirkung besitzt und ein sehr starkes Schlafmittel ist.

 

 

 

8.5. Die Besonderheiten der Prophylaxe

 

Nach unserer Meinung ist die Prävention das wichtigste Mittel zur Bekämpfung der Ausbreitung der Drogenabhängigkeit bei russisch sprachigen Migranten in Deutschland. Sie besteht aus der Prävention des Migrationssyndroms und der Prophylaxe der Drogenabhängigkeit. Sie unterliegt ihren eigenen Besonderheiten. Die Prophylaxe der Drogenabhängigkeit sollte möglichst früh einsetzten, möglichst direkt nach der Einreise. Falls die Kinder hier geboren sind, sollte sie im Alter von 6 bis 8 Jahren angefangen werden und auch die Familien und Schulen mit einbeziehen. Dazu sollten nicht nur Eltern und Pädagogen hinzu gezogen werden, sondern auch Psychologen, Soziologen u.s.w.. Die wichtigste Rolle sollte jedoch der Psychiater spielen, weil Drogenabhängigkeit eine der schwierigsten Erkrankungen darstellt.

Zu den prophylaktischen Maßnahmen bei den russisch sprachigen Süchtigen sollten russisch sprechende Fachleute hinzu gezogen werden, die die Mentalität der Migranten gut kennen, die sich während der Migration geändert hat. Wir halten die Ursachenforschung der Drogenproblematik bei russisch sprachigen Kindern und Jugendlichen für sehr wichtig, bisher wurde sie nicht ausreichend durchgeführt. Leider ist die Drogenprävention für russisch sprechende Migranten nur mangelhaft organisiert, womit man auch die rasch steigende Zahl an russisch sprachigen Drogenkonsumenten erklären kann und auch die daraus resultierenden negativen Folgen. Die soziale Degradierung und Kriminalisierung russisch sprachiger Süchtiger haben auch sehr ausgeprägte negative Folgen auf die mikro- und makrosoziale Umgebung.

 

 

 

Boris Miretski
Arzt und Leiter
Beratungsinstitut KORUND
Lothar Schmidt
Dipl. Psychologe
Drogenhilfezentrum
Carina Hornung .
Dipl. Psychologin
Aids-Hilfe Saar e.V
Saarbrücken


 

 

 

 

 
 
TOP